Mobilität jenseits COVID: Lehren aus der Krise

18. Mär 2021

"Jede Krise zwingt die Gesellschaft zur Reflektion und Erneuerung"
"Jede Krise zwingt die Gesellschaft zur Reflektion und Erneuerung"
Jörg Beckmann am Live-Event der LITRA 2021

Die Corona-Pandemie ist auch eine "Mobilitätskrise". Das "Corona-Brennglas" hat sowohl im Personen - als auch im Güterverkehr für einen enormen Innovations- und Transformationsschub gesorgt. Auch der Weg des Schweizer ÖVs aus dem „Corona-Loch“ muss über Angebotsinnovationen führen, die sowohl den „covid-bedingten“, neuen Mobilitätsroutinen der Verkehrsnutzer:innen etwas zu bieten haben, als auch Schritt halten mit den übergeordneten strukturellen Transformationen in der Gesamtmobilität. Der Schweizer ÖV sollte sich zum Ziel setzen, im Schulterschluss mit den anderen etablierten Akteuren im Schweizer Verkehrssektor eine qualitative Transformation der Mobilität zu erwirken, aus der etwas Neues und noch Besseres als zuvor entsteht, sagte Jörg Beckmann, Direktor der Mobilitätsakademie, am 18. März am Live-Event der LITRA. In fünf Schritten können wir eine neue Mobilität erschaffen, die den Mobilitätssektor aus dem Corona-Loch führen könnten.

Rede von Jörg Beckmann, Mobilitätsakademie des TCS

Meine Grundthese: Die Corona-Pandemie ist zweifelsohne auch eine „Mobilitätskrise“. Wie jede Krise zwingt sie Gesellschaften zur Reflektion und Erneuerung. Umso mehr, als dass die Mobilität sich auch schon bereits vor Corona – angesichts des zwingend erforderlichen ökologischen Strukturwandels des gesamten Verkehrssektors – in einer grossen Veränderungsphase befand.

Dieser Veränderungsdruck erhält nun durch Corona eine zusätzliche Dynamik und das insbesondere auch mit Blick auf den klassischen öffentlichen Verkehr. Nicht nur muss der Schweizer ÖV möglichst schnell wieder zu seiner strukturgebenden Rolle zurückfinden, sondern parallel dazu auch noch eine tragende Funktion in der anstehenden Verkehrswende für sich beanspruchen.

Diesen Anspruch nun auch wirklich durchzusetzen wird künftig allerdings nicht gerade einfacher, denn das „Corona-Brennglas“ hat sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr für einen enormen Innovations- und Transformationsschub gesorgt. Automobilhersteller und -dienstleister machen ihre Produkte deutlich ökologischer (s. Elektrifizierung) und flexibler (s. Auto-Abos), Mikromobilitätsanbieter erobern die erste und letzte Meile (und das nicht mehr nur in den Metropolen) und risikokapitalfinanzierte Start-Ups aus dem ICT-Sektor besetzten das fruchtbare Feld der datengetriebenen Mobilität.

Angesichts dieser sich rasant verändernden Verkehrswelt führt auch der Weg des Schweizer ÖVs aus dem „Corona-Loch“ eben nur über Angebotsinnovationen, die sowohl den „covid-bedingten“, neuen Mobilitätsroutinen der Verkehrsnutzer:innen etwas zu bieten haben, als auch Schritt halten mit den übergeordneten strukturellen Transformationen in der Gesamtmobilität.

In dieser historisch einzigartigen Phase hat der Schweizer ÖV nun die Chance, weit mehr als nur die Wiedererreichung der Auslastung aus Vor-Coronazeiten anzustreben. Vielmehr sollte er sich zum Ziel setzen, im Schulterschluss mit den anderen etablierten Akteuren im Schweizer Verkehrssektor eine qualitative Transformation der Mobilität zu erwirken, aus der etwas Neues und noch Besseres als zuvor entsteht.

Aus meiner Sicht geht es dabei in erster Linie um die gemeinsame Schaffung einer reflexiv-resilienten, normativ geprägten, kollaborativ ausgestalteten, monovalenten, digital gewandelten, stärker aktiven, und letztlich auch suffizienten Mobilität. Diese „Neuen Mobilitäten“ möchte ich anhand von fünf Schritten, die den Mobilitätssektor aus dem Corona-Loch führen könnten, kurz erläutern.

Schritt 1: Selbstreflexion
Der erste Schritt auf dem Erneuerungsweg der Mobilität
muss bei einer selbstkritischen, d.h. reflexiven Auseinandersetzung mit den nicht-intendierten Nebenfolgen bzw. ökologischen, sozialen und ökonomischen Risiken des individuellen, organisatorischen oder gesellschaftlichen Mobilitätshandelns beginnen. Für den vorliegenden Krisenfall im ÖV heisst das, die eigene Resilienz zu stärken und mit Blick auf künftige gesellschaftliche Tiefenkrisen, wie beispielsweise die Klimakrise, entsprechende Grossrisiken zu minimieren versuchen. Das heisst im Klartext: Am beschleunigten ökologischen Strukturwandel des Mobilitätssektors führt während und nach Corona kein Weg vorbei.

Schritt 2: Blick nach vorne
Womit wir schon beim zweiten Schritt wären: die Mobilität nach Corona muss normativ-prospektiv sein und in keiner Weise mehr rückwärtsgewandt. Mit Corona haben wir gelernt, dass die reine Fortschreibung vergangener Entwicklungen in Form von Prognosen den sogenannten „Wild Cards“ und „Schwarzen Schwänen“, die sicher auch künftig auf uns warten, kaum Rechnung tragen kann. Corona macht deutlich, dass Prognosen schnell an Gewissheit verlieren und die Festlegung von übergeordneten Zielen nicht ersetzen können – denn nur sie ermöglichen Fortschritt und Wandel. Im Klartext: Die Zukunft der Mobilität bestimmen wir, indem wir sie gemeinsam in einem Zukunfts- bzw. Leitbild formulieren und dann nach Kräften versuchen, dieses zu erreichen. Zukunft ist auf keinen Fall nur die Fort- und damit Festschreibung der Vergangenheit!

Schritt 3: nur gemeinsam
Alle Schritte aus dem Corona-Loch können wir nur gemeinsam gehen – und genau das wird mit dem dritten Schritt deutlich. Die neue Pluralität in der Mobilität hat in den vergangenen Monaten gezeigt, wie wichtig neue Mobilitätswerkzeuge und -dienste, innovative Datenströme, Lieferketten, Versorgungswege oder Arbeitsmodelle sein können, um Wirtschaft und Alltag vor dem Kollaps zu bewahren. Corona hat das Ende der bipolaren Verkehrswelt mit dem klassischen öffentlichen Kollektivverkehr auf der einen und dem privaten Individualverkehr auf der anderen Seite besiegelt. Im Klartext: Die Mobilität von morgen kann nur eine kollaborative sein, d.h. eine, in der Verkehrsanbieter eng miteinander kooperieren und Verkehrsnutzer:innen Verkehrsmittel auf vielfältige Art gemeinschaftlich nutzen und besitzen.

Schritt 4: Richtige Technologie
Dafür müssen im vierten Schritt die richtigen Technologien zum Einsatz kommen. Der grosse technologische Wandel des Verkehrs fusst heute einerseits auf der Elektrizität als alleinige Antriebsenergie – und ermöglicht so eine neue, monovalente Personen- und Gütermobilität. Anderseits beschleunigt die rasante Digitalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche auch die Mobilität und verbessert, verlagert und vermeidet bisherige Verkehre – und verändert insgesamt die Verkehrswelt auf kolossale Art und Weise. Doch auch diese neuen Techniken machen nur dann Sinn, wenn sie unter Schritt eins kritisch betrachtet und auch wirklich in den Dienst der in Schritt zwei definierten Zukunftsmobilität gestellt werden. Im Klartext: Die Anwendung neuer Technologien auf dem Weg aus der aktuellen Krise muss den Prinzipien einer sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltigen Mobilität gehorchen – andernfalls muss sie unterbleiben.

Schritt 5: Weniger Verkehr, mehr Mobilität
Der fünfte Schritt in eine bessere, neue Mobilität wendet abschliessend die vermeintlichen „Immobilitätserfahrungen“ aus der Coronazeit ins Positive und soll künftig das ermöglichen, was lange als unmöglich galt: nämlich mit weniger Verkehr und mehr Mobilität sinnvoller zu wirtschaften und genauso erfüllt zu leben, wie vor Corona. Nach langjährigen Bemühungen um mehr Effizienz und Konsistenz im Verkehrssektor, zeigt uns Corona, dass auch ein suffizienteres Verkehrsverhalten denkbar und machbar ist. Von den Campingferien in der heimischen Schweiz und der eBike-Tour in der Region, über die temporäre Verlagerung des Arbeitsplatzes in den benachbarten Coworking-Space und die Substitution von Geschäftsreisen durch Teams, Skype und Zoom, bis hin zu lokalen, ressourcenschonenden Ver- und Entsorgungsketten, konnte Corona zeigen, dass wir tatsächlich auch mit weniger Verkehrsaufwänden zu leben vermögen – und das heisst im Klartext: Es gibt durchaus Geschäftsmodelle, die nicht zwingend in einem weiteren Verkehrswachstum münden müssen, sondern vielmehr zu einem neuen, unternehmerisch erfolgreichen (Im)mobilitätsmanagement führen können. Gerade das ist auch eine Riesenchance für den Schweizer Verkehrssektor!

Fazit
Nur wenn wir diese neuen Mobilitätsperspektiven als jene „Kammern der Veränderungen“ begreifen, die wir auch bei der Überwindungen von persönlichen Krisen durchschreiten müssen, d.h. auf dem Weg aus der Selbstzufriedenheit heraus, über die Ablehnung notweniger Massnahmen und der Verwirrung angesichts vielfältiger Optionen bis hin zur Erneuerung des Selbst - nur dann wird der Schweizer Mobilitätssektor durch die eigene Krisenbewältigung zum Leitsektor für die Bewältigung gesellschaftlicher Krisen von morgen werden – allen voran für jene der unmittelbar bevorstehenden Klimakrise.

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